Trotz unbestreitbarer Vorteile ist die gesellschaftliche Akzeptanz der Globalisierung gesunken. Umweltbelastungen werden mit ihr genauso in Verbindung gebracht wie Arbeitsplatzverluste. Zudem stellte die Politik zuletzt vielerorts nationale Interessen in den Mittelpunkt. Ist die Globalisierung auf dem Rückzug? Eine Analyse von Dr. Michael Heise.

Die Globalisierung der Weltwirtschaft, die man als zunehmende Verflechtung der Volkswirtschaften über Handel, Investitionen und Wissen beschreiben kann, hat den globalen Wohlstand in den vergangenen Jahrzehnten wesentlich erhöht und Millionen von Menschen insbesondere in den Schwellen- und Entwicklungsländern besser bezahlte Arbeitsplätze geboten.

Die gesellschaftliche Akzeptanz des Globalisierungsprozesses ist jedoch über die Jahre gesunken: Umweltbelastungen werden mit der Globalisierung ebenso in Verbindung gebracht wie Arbeitsplatzverluste in den entwickelten Ländern durch Niedriglohnkonkurrenz aus aufstrebenden Regionen. Viele Menschen fragen sich, ob die Globalisierung durch Handel und Produktionsverlagerungen möglicherweise zu weit gegangen ist. Da auch die Politik in den letzten Jahren vielerorts nationale Interessen wieder in den Mittelpunkt gestellt hat: Ist die Globalisierung auf dem Rückzug?

Gründe für die Verlangsamung der Globalisierung

Wichtige Indikatoren zeigen seit der Finanzkrise eine deutliche Verlangsamung des Globalisierungsprozesses, der vor allem in den neunziger Jahren einen regelrechten Schub erfahren hatte. Festzumachen ist das zum einen daran, dass die globalen Exporte, also die Summe aller ausgeführten Waren und Dienstleistungen, seit etwa 2008 nicht mehr schneller wächst als die globale Wirtschaftsleistung, was über Jahrzehnte ein ehernes Gesetz zu sein schien (Schaubild 1).

Schaubild 1: Globalisierung verliert an Tempo

Interessant ist allerdings, dass beim grenzüberschreitenden Dienstleistungshandel nach wie vor überproportionales Wachstum festzustellen ist. Eine plausible Erklärung dafür ist, dass die räumliche Nähe eines Dienstleistungsunternehmens zum produzierenden Unternehmen und zum Konsumenten aufgrund der Digitalisierung eine immer geringere Rolle spielt. Auch die grenzüberschreitenden Investitionen (FDI) haben seit der Finanzkrise an Dynamik verloren. Weltweit gesehen sind die Kapitalabflüsse heute in Relation zum Bruttoinlandsprodukt deutlich niedriger als 2008. Lediglich Chinas abfließende Investitionen haben sich seit der Finanzkrise in der Grundtendenz erhöht. Ein weiterer hilfreicher Maßstab der Globalisierung, der die Zerlegung der Wertschöpfungsketten abbildet, ist der grenzüberschreitende Vorleistungshandel in Relation zum gesamten Warenhandel. Diese Größe zeigt ebenfalls ein langsameres Tempo der Globalisierung an. Sie ist in den letzten knapp anderthalb Jahrzehnten deutlich gesunken (Schaubild 2).

Schaubild 2: Auslandsanteil an der Wertschöpfung (Exporte) geht zurück

Für die Abschwächung des Prozesses sind drei Gründe besonders hervorzuheben

Ein wesentlicher Aspekt ist, dass sich die Rolle Chinas in der Weltwirtschaft geändert hat. Das Land hat sich in den achtziger und neunziger Jahren durch die Herstellung von preiswerten einfachen Produkten und als Montagestandort für zuvor importierte Produktkomponenten Handelsvorteile verschafft, die die wirtschaftliche Entwicklung vorangetrieben haben. Inzwischen hat China seine Wertschöpfungstiefe und seinen Binnenmarkt wesentlich vergrößert. Und die chinesische Regierung wendet sich weiter nach innen und zielt darauf ab, die Abhängigkeit von Importen bei verarbeitenden Gütern und Technologieprodukten durch den Aufbau eigener Produktionskapazitäten zu vermindern. Aufgrund dieser Entwicklungen ist der Handelsüberschuss des Landes schon seit Jahren nicht mehr der Hauptreiber des Wachstums.

Für die Verlangsamung des Globalisierungstempos spielt auch die internationale Handelspolitik eine wesentliche Rolle. In den Jahren seit der Finanzkrise hat es insgesamt weniger Bereitschaft zur Liberalisierung des Welthandels und eher mehr Handelshemmnisse im Rahmen einer vielerorts auf nationale Interessen ausgerichteten Politik gegeben. (EVT. Hinweis auf einen Indikator wie trade alert). Eine wesentliche Rolle spielte dabei die Politik der USA unter Donald Trump, der weder einem Zollabbau mit der EU noch der multilateralen Handelsordnung durch die WTO zustimmte und gegenüber vielen Ländern die Zölle erhöhte. Mit der neuen Regierung unter Joe Biden gibt es doch in zahlreichen Bereichen Chancen auf eine Verminderung von Zöllen und Handelsbarrieren. Sorge bereitet allerdings der anhaltende Konflikt mit China, der die internationale Arbeitsteilung in den kommenden Jahren weiter belasten dürfte.

Ein dritter Grund für die Verlangsamung der Globalisierung liegt in dem teilweise unternehmerisch, teilweise politisch bedingten Bemühen, die Abhängigkeit von komplexen grenzüberschreitenden Lieferketten zu vermindern. Im politischen Bereich stand im Rahmen der COVID Krise das Problem im Vordergrund, dass medizinische Güter nicht im gewünschten Umfang und rasch genug verfügbar waren, weil einzelne Länder im Interesse der nationalen Infektionsbekämpfung Exporte limitierten oder die komplexen Produktionsprozesse etwa zur Herstellung von Impfstoffen nicht reibungslos funktionierten. Erhebliche Investitionen in den Aufbau nationaler Kapazitäten waren die Folge. Im Unternehmenssektor werden bis zum heutigen Tage sehr gravierende Produktionsbehinderungen durch Engpässe bei Vorleistungsgütern gemeldet (Schaubild 3).

Schaubild 3: EWU: Absatzpreis-Erwartungen und Materialknappheiten weiter steigend

So verstärkt die Covid-Krise die Bemühungen vieler Unternehmen, die teils sehr komplexen Wertschöpfungsketten weniger anfällig zu machen. Das Modell der schlanken Produktion mit minimaler Lagerhaltung und just in time Zulieferungen hat sich als anfällig erwiesen. Eine Vertiefung der eigenen Wertschöpfungskette, re-shoring von Produktion aus dem Ausland oder der Aufbau von Verbundgruppen zwischen Endprodukthersteller und Zulieferern nach dem Modell des japanischen Keiretsu können dazu dienen. Mögliche Verbesserungen der Resilienz von Wertschöpfungsketten werden allerdings häufig zu Lasten der Kosteneffizienz und der Produktivität gehen. Das wird in gewissem Umfang in Kauf genommen.

Der Ausblick ist verhalten positiv

Wie wird die Entwicklung weitergehen? Aus konjunktureller Hinsicht ist Zuversicht gerechtfertigt. Der internationale Warenhandel hat sich doch rasch von dem Nachfrageeinbruch im Rahmen des ersten großen Lockdowns im Frühsommer 2020 erholt und liegt inzwischen wieder über den Werten von vor der Krise. Auch im weiteren Verlauf des Jahres und in 2022 ist von zunehmender internationaler Handelsaktivität auszugehen. Die Transport- und Lieferengpässe werden sich mit einer Erhöhung von Investitionen und Kapazitäten und mit einer hoffentlich bevorstehenden Entspannung der Anti-Covid-Maßnahmen bei Grenzübergängen, Schiffs- und Flughäfen überwinden lassen. In manchen Bereichen wie der Chipproduktion oder auch der Rohstoffversorgung wird es allerdings einige Zeit dauern, bis die Produktionskapazitäten ausgebaut sind.

Die strukturellen Ursachen der verlangsamten Globalisierung haben dagegen eher nachhaltigen Charakter. Das Bemühen um mehr nationale Versorgungssicherheit und eine verminderte Anfälligkeit von internationalen Lieferketten wird auch in den kommenden Jahren die Ausweitung des internationalen Handels dämpfen. Der Anteil an Vorleistungen am gesamten Handelsvolumen dürfte auf dem erreichten niedrigeren Niveau bleiben oder weiter zurückgehen. Die internationalen Direktinvestitionen sind schwer vorherzusehen, dürften aber wohl nur verhalten zunehmen. Der Ausbau nationaler Produktionskapazitäten zur Verminderung der Abhängigkeit von anfälligen Lieferketten dürfte im Vordergrund stehen, auch die Sicherungen technologischer Kompetenz ist ein Motiv, dass dämpfend auf die Auslandinvestitionen wirken könnte.

Allerdings gibt es auch Aspekte, die für weiter kräftig steigende Direktinvestitionen sprechen: die Notwendigkeit nah an den Absatzmärkten zu sein, wettbewerbsfähige Kostenstrukturen zu sichern und die Möglichkeit über Auslandsproduktion Zollschranken im Warenhandel zu umgehen, die in den letzten Jahren eher aufgebaut wurden. Letzteres war in den vergangenen Jahren etwa in der Automobilbranche ein Thema, als unter der Trump Regierung höhere Importzölle für Automobile und Lastkraftwagen angedroht wurden. Für die Herstellern waren daher die Produktionskapazitäten im Absatzmarkt der USA von besonderer Bedeutung.

Was die internationale Handelspolitik angeht, könnten die nächsten Jahre auch positive Entwicklungen bringen. Freihandelsabkommen wie etwa CETA zwischen der EU und Kanada oder die asiatische RCEP (Regional Comprehensive Economic Partnership), die ein größeres Handelsvolumen umfasst als jede andere Freihandelszone, sind in den jeweiligen Regionen ein treibender Faktor für Handel und mehr Auslandsinvestitionen. Da es bei regionalen Freihandelsvereinbarung auch Handelsverlagerungen zu Lasten der Handelspartner in anderen Regionen geben kann, werden die weltweiten Effekte dieser Freihandelszonen eher beschränkt sein. Stärkere globale Wirkungen könnte ein Abbau von Handelsbarrieren im Rahmen der WTO haben. Möglicherweise wird die neue US-amerikanische Positionierung im Hinblick auf multilaterale Institutionen auch hier Fortschritte bringen. Schlussendlich könnte auch eine Reduzierung der Handelsbarrieren zwischen der USA und der EU den Handel und die Arbeitsteilung verstärken.

Handelsliberalisierung stößt auf Vorbehalte

Allerdings stoßen Liberalisierungsbemühungen in der Handelspolitik häufig auf eine geringe gesellschaftliche Akzeptanz der Globalisierung. Bemängelt werden hohe Umweltkosten durch weltweite Lieferketten und den hohen Ressourcenverbrauch. Auch die Folgen für die Arbeitsmärkte hochentwickelter Länder führen zu Spannungen, weil Länder mit niedrigeren Löhnen und weniger strengen Standards für die Arbeitsbedingungen zu Beschäftigungsverlusten in der industriellen Fertigung in entwickelten Ländern führen.

Vor allem in den USA ist diese Kritik stark ausgeprägt; in Deutschland hat sie unter anderem zu dem Lieferkettengesetz geführt. Vielfach wird ein Verlust an nationaler Autonomie in der Wirtschaftspolitik beklagt, da Unternehmen auf höhere Steuern oder politisch gewünschte kostspielige Regulierungen mit Produktionsverlagerung oder Outsourcing reagieren können. Die aktuellen Bemühungen um eine weltweite Mindeststeuer für internationale Firmen und die Forderungen nach einer stärkeren staatlichen Einflussnahme durch Beteiligungen und eine aktive Industriepolitik sind vor diesem Hintergrund zu sehen.

Unbestreitbar ist, dass die Globalisierung auch Verlierer erzeugt. Man darf darüber aber nicht die insgesamt wohlstandssteigernde Wirkung übersehen. Die Vertiefung der internationalen Arbeitsteilung und die Mobilität von Wissen und Kapital hat die Entwicklung vieler aufstrebender Länder, nicht nur Chinas, beschleunigt, und so dazu beigetragen, die Armut deutlich zu reduzieren und den Menschen mehr Wohlstand zu bringen. In den entwickelten Volkswirtschaften haben vor allem die Konsumenten durch günstige Preise und mehr Wahlmöglichkeiten profitiert. Offene Märkte sind erforderlich, um den gesellschaftlichen Wohlstand zu erhalten. Aber wie kann man die Akzeptanz der Globalisierung und der internationalen Arbeitsteilung erhöhen?

Zum einen sollten die Verlierer der Globalisierung nicht sich selbst überlassen bleiben. Der durch die Globalisierung bewirkte Strukturwandel wird sich nicht aufhalten lassen und in manchen Branchen Arbeitsplätze kosten. Aber die Wirtschaftspolitik kann für wachsende und attraktive Beschäftigungsbedingungen in anderen Bereichen sorgen, wo neue Bedarfslagen etwa im Klimaschutz oder technologische Innovationen stattfinden. Unterstützungszahlungen und Bildungsangebote müssen den Strukturwandel unterstützen. Auch ist es wichtig der Globalisierung etwa im Rahmen der WTO Regeln ein Gerüst zu geben, um Fehlentwicklungen zu begrenzen. Das kann die Vermeidung von Umweltschäden, die Sicherung geistiger Eigentumsrechte oder sonstige faire Wettbewerbsbedingungen betreffen. Auch Initiativen wie die Einführung neuer internationaler Steuerregeln können Fehlentwicklungen und damit berechtigte Kritik an der Globalisierung vermindern.

Fazit

Der Tempoverlust der Globalisierung, der seit der Finanzkrise zu beobachten ist, geht auf eine Mischung von politischen und ökonomischen Faktoren zurück; Im politischen Bereich haben Handelsstreitigkeiten mit höheren Zöllen und Handelshemmnissen und eine „mein Land zuerst“ Philosophie ihre Wirkung gehabt. Mit der Rückkehr der USA als Führungsnation mit multilateraler Ausrichtung stehen die Chancen jedoch nicht schlecht, dass sich die Rahmenbedingungen für internationalen Handel und Kapitalverkehr wieder verbessern. Im ökonomischen Bereich spielen die stärkere Binnenmarktorientierung Chinas und die unternehmerischen Anpassungen von Produktions- und Lieferketten eine Rolle, die die Robustheit von Wertschöpfungsprozessen erhöhen sollen. Diese Faktoren werden auch in den kommenden Jahren fortwirken und das Globalisierungstempo dämpfen.

Die Globalisierung verliert an Tempo

Da unternehmerische Anpassungen jedoch immer unter dem Blickwinkel von Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit stehen müssen, werden nachteilige Produktivitäts- und Wachstumsentwicklungen als Folge dieser Anpassungen sehr begrenzt sein. Das gilt auch deshalb, weil die Digitalisierung, die ein Hauptreiber der Globalisierung ist, mit der Covid-Krise neuen Schub erfahren hat. Die Digitalisierung eröffnet immer mehr und immer neue Möglichkeiten, Produktionsprozesse in Komponenten zu zerlegen und global zu steuern, weltweiten online Handel zu betreiben und Informationen global zu teilen und auszuwerten. So wird es für die Konsumenten selbstverständlich, auf globale Handelsketten zuzugreifen, international gefertigte Produkte zu kaufen und globale Medien- und Informationsangebote wahrzunehmen. Und für die Unternehmen erleichtert die Digitalisierung den weltweiten Vertrieb und die weltweite Produktion.

Unter dem Strich ist daher nicht damit zu rechnen, dass in den kommenden Jahren ein deutlicher Rückgang des internationalen Waren- und Kapitalverkehrs zu erwarten ist, der vor allem offene Volkswirtschaften wie die deutsche hart treffen würde. Auch im Interesse der Schwellenländer sollte allerdings alles dafür getan werden, die Rahmenbedingungen der Globalisierung im Sinne der Wettbewerbsgleichheit und der positiven Begleitung des Strukturwandels in den jeweiligen Ländern zu verbessern.

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Dr. Michael Heise
Chefökonom
HQ Trust
Dr. Michael Heise ist Chefökonom von HQ Trust. Er zählt zu den bekanntesten Volkswirten des deutschsprachigen Raumes. Vor seinem Start bei HQ Trust war er Leiter des Group Centers Economic Research der Allianz SE sowie Generalsekretär des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Dr. Michael Heise lehrt als Honorarprofessor an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Er ist Mitglied in diversen hochrangigen Ausschüssen und des Planungsstabes des House of Finance.
Inhaltsverzeichnis
  1. Gründe für die Verlangsamung der Globalisierung
  2. Für die Abschwächung des Prozesses sind drei Gründe besonders hervorzuheben
  3. Der Ausblick ist verhalten positiv
  4. Handelsliberalisierung stößt auf Vorbehalte
  5. Fazit